Partizipation in der Schutzsuche: Der VSE NRW e.V. hat den Deutschen Jugendhilfetag in Leipzig genutzt, um über die Notwendigkeit der rechtlichen Verankerung von Notschlafstellen für Minderjährige zu diskutieren. Mit dabei waren zwei Vertreterinnen der Momos – Voice of disconnected Youth in Essen sowie Vertreter*innen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung. Der Deutsche Jugendhilfetag ist die größte Fachmesse zur Jugendhilfe in Deutschland und stand dieses Jahr unter dem Motto: „Weil es ums Ganze geht – Demokratie durch Teilhabe verwirklichen“.
Passend zum Motto der Messe stand die Podiumsdiskussion unter dem Titel „Eine Frage der Partizipation: Schutzsuche in Notschlafstellen rechtlich verankern“. Stand jetzt sind Notschlafstellen für Minderjährige auch in großen Kommunen die Ausnahme – ihre Existenz setzt den politischen Willen des Rates und die Umsetzung durch das örtliche Jugendamt voraus, denn im SGB VIII sind sie nicht als Regelleistung beschrieben. „Dabei stellen Notschlafstellen eine unerlässliche Ergänzung zur Inobhutnahme dar. Sie sind niedrigschwellig und basieren auf Freiwilligkeit. Häufig ist auch anfängliche Anonymität ein wichtiger Faktor für die Schutzsuchenden. Notschlafstellen sind in manchen Fällen die letzte sichere Zuflucht für die vulnerable Zielgruppe der entkoppelten, wohnungs- oder obdachlosen jungen Menschen“, so Björn Kramp, Mitarbeiter im VSE-Sleep In Stellwerk in Dortmund. Katze engagiert sich bei den Momos, der Selbstvertretung von (ehemaligen) Straßenjugendlichen. Sie selbst war schon mit 11 Jahren von Obdachlosigkeit betroffen. „Ich kannte das Angebot von Notschlafstellen überhaupt nicht. Und laut Gesetz durfte es mich auch nicht geben. Minderjährige können laut Gesetz nicht obdachlos sein“, so die 21-Jährige.
Monika Feist-Ortmanns, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) verdeutlicht: „Eben weil es kaum Angebote für obdachlose Jugendliche gibt, gibt es auch nur sehr unzuverlässige Zahlen über die Zielgruppe. 47.200 Minderjährige in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe werden derzeit statistisch geführt und 18.760 junge Volljährige. 37 % der Menschen in Angeboten der Wohnungslosenhilfe sind unter 25 Jahre und haben eigentlich Anrecht auf Leistungen des SGB VIII. Grob geschätzt geht man von 35.000 jungen Menschen aus, die nicht an Hilfsangebote angebunden sind, also auf der Straße leben“, so Feist-Ortmanns. Das IKJ hat im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Dialogprozesses zur SGB VIII-Reform bundesweit Fokusgruppen durchgeführt. Deshalb weiß Monika Feist-Ortmanns aus erster Hand: „Die Notwendigkeit für eine rechtliche Grundlage wird durchaus anerkannt, gerade auch bei großen Jugendämtern, aber die Zielgruppe hat kaum Lobby.“ Erik Bedarf, Fachberater in der Pädagogischen Beratungsstelle Ruhr/Niederrhein des VSE NRW e.V. hat eine Erklärung dafür: „Die Existenz und Anerkennung von Notschlafstellen ist eine narzisstische Kränkung des Systems. Wir sind alle angetreten, um bedingungslos Erfolgsgeschichten zu organisieren, aber stattdessen tragen wir im aktuellen Hilfesystem immer wieder zu Geschichten des Scheiterns bei. Wir erreichen längst nicht mehr alle, die die Hilfen dringend benötigen.“
Notschlafstellen stoßen in ihrer aktuellen Verfasstheit an diverse Hürden im System. „Sie setzen ein maximales Maß an Partizipation voraus und es werden in diesem Angebot andere Ziele verfolgt als in den klassischen Hilfen zur Erziehung – es geht primär um Schutzsuche und Versorgung, heißt: Daseinsfürsorge statt Bildung, Erziehung und Entwicklung“, so Dr.in Daniela Molnar von der Uni Siegen. „Das Jugendhilfesystem zeichnet sich aber durch eine Orientierung an Zielen aus.“ Ein weiteres Problem liegt darin, dass Jugendliche, die ihren Lebensmittelpunkt auf die Straße verlegt haben, sich nicht um Stadtgrenzen kümmern. Sie halten sich dort auf, wo sie Anschluss finden. So kommt es immer wieder vor, dass Jugendliche aus anderen oder Nachbarstädten in die Zuständigkeit jenes Jugendamtes wechseln, in dessen Stadt sie Unterschlupf gefunden haben. „Selbst, wenn die Heimatjugendämter willig sind, die Kosten für die Übernachtungen zu übernehmen, fehlt ihnen der Paragraph, um sie abzurechnen“, so Björn Kramp. Eine gesetzliche Grundlage könnte die Abrechnung über Stadtgrenzen hinweg erleichtern, ähnlich wie es heute schon bei der IONA funktioniert.
Ein weiterer wichtiger Faktor, warum es Notschlafstellen in allen Großstädten braucht, ist die regionale Vernetzung. „Als niedrigschwelliges Setting sind wir sehr regelarm. Keine Gewalt und kein Konsum in der Einrichtung ist schon fast alles. Aber auch hier kommt es zu Verstößen und dann sind Hausverbote unausweichlich, um die anderen Kids und Mitarbeitende zu schützen. Könnten wir die Jugendlichen dann nicht nach Essen oder Bochum verweisen, wo es auch Notschlafstellen gibt, dann wären sie wieder der Straße ausgesetzt“, ergänzt Kramp.
Dass Notschlafstellen ein unverzichtbares Angebot sind und dass sie eine gesetzliche Grundlage brauchen, um flächendeckend und mit einheitlicher Qualität angeboten zu werden, war Konsens bei den Diskutierenden. Doch wie könnte eine Aufnahme ins Gesetz – so kurz nach der letzten SGB VIII-Reform – gelingen? Monika Feist-Ortmanns hat eine unkonventionelle Idee: „§ 20 SGB VIII zur kurzfristigen Krisenintervention ist meiner Ansicht nach eventuell auch geeignet als Rechtsgrundlage für Notschlafstellen“, so Feist-Ortmanns. Denn der Paragraph soll demnächst evaluiert werden. Schon jetzt seien Erziehungsberatungsstellen als Leistungsvermittler in Krisensituationen tätig. Würde man Notschlafstellen als pauschal finanzierte Leistung zur kurzfristigen Krisenintervention in den Paragraphen aufnehmen, könnte hier eine Vermittlung stattfinden, so die Idee der Wissenschaftlerin.
Neben der Frage, wo und wie Notschlafstellen rechtlich verankert werden könnten, stand auch ein möglicher Qualitätsstandard solcher Einrichtungen zur Diskussion. Fachlichkeit ist hier das A & O. Niedrigschwellige Hilfen, das betont Daniela Molnar, haben es per se schwer in unserem System: „Sie bedürfen einer enorm hohen Fachlichkeit und Resilienz der Fachkräfte, viel Professionalität und Wissen in Bereichen wie Traumapädagogik oder Umgang mit Konsum und herausforderndem Verhalten. Gleichzeitig sind die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen oft unsicher – wie man am Beispiel der fehlenden rechtlichen Grundlage für Notschlafstellen sieht.“ Niedrigschwelligkeit dürfe unter keinen Umständen zu De-Professionalisierung führen. „Wir brauchen in diesen Angeboten sehr gut ausgebildete und erfahrene Fachkräfte, die angemessen vergütet, regelmäßig geschult und supervidiert werden.“
Weitere Aspekte, die die Qualität von Notschlafstellen auszeichnen müssen, macht auch Lena von den Momos deutlich: „Partizipation, Sicherheit bzw. Verbindlichkeit bezüglich des Schlafplatzes, wenige Regeln, Empathie und vorsichtige Beziehungsangebote.“ Daniela Molnar macht in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam: „Partizipation ist etwas Anderes als Beteiligung. Möchte ich die Jugendlichen beteiligen, können sie mitbestimmen, wo die Freizeit hingeht oder was es zu Abendessen gibt. Partizipation ist das Abgeben von Macht.“
Zum Abschluss der Diskussion wird deutlich: Um die Zielgruppe, die einerseits hochgradig vulnerabel und schutzbedürftig und andererseits häufig herausfordernd in ihren Verhaltensweisen ist, wieder zu erreichen, müssen Notschlafstellen als mögliches Eingangstor und nicht als Endstation angesehen werden. In dem niedrigschwelligen, freiwilligen Angebot liegt viel Potenzial, Vertrauen ins System bei der Zielgruppe wiederherzustellen und dabei auch noch Partizipation zu ermöglichen – eine Forderung, die im KJSG deutlich hervorgehoben wird.
Der VSE NRW e.V. und seine Kooperationspartner, Raum 58 in Essen und Momo – Voice of disconnected Youth, setzen sich dafür ein, dass eine Aufnahme der Leistung Notschlafstelle ins Kinder- und Jugendhilferecht neu diskutiert und möglicherweise über § 20 SGB VIII ermöglicht wird. Wir freuen uns über Vernetzung und weiteren fachlichen Austausch zu diesem Thema.